Samstag, 16. Januar 2016

Textdokumentation

xxx



Schweiz am Sonntag / MLZ; 10. Mai 2015
Das grosse Interview mit Christoph Müller
«Musik muss Sprengkraft haben»
Kulturmanager Christoph Müller ist einer der aktivsten und modernsten Intendanten der Schweiz. Einer, der ein Wort wie «Publikumswirksamkeit» nicht scheut.
Herr Müller, wie viele Konzerte initi ieren Sie im Jahr? Wie viele Leute könnten die hören?
Christoph Müller: Etwa 200 Konzerte für 160 000 Menschen: 80 mit dem Kammerorchester Basel weltweit, 55 beim Menuhin Festival in Gstaad, der Rest bei unseren Konzertreihen in Luzern, Olsberg, Rheinfelden und Riehen sowie der Cappella Gabetta, dem Projekt Haydn-2032 und des Gstaad Festival Orchestra.
Welcher Grundgedanke steht hinter einem Konzert?
Ich versuche, jedem Konzert ein Gesicht zu geben. Es ist wichtig, dass von aussen erkannt wird, was hinter der Programmkonzeption steht. Wichtig ist die Mischung zwischen Solist, Dirigent und Programm sowie die Rücksicht auf deren Stärken – das muss eine Sprengkraft haben. Erhält ein Solist diese Bühne, muss es eine Persönlichkeit mit Charisma sein, ein Sympathieträger, der das Publikum erreichen kann. Abgelöschte Kopfmusiker, die das Intuitive vermissen lassen, kommen schlecht an.
Somit spielt stets die Frage mit: Wie verkaufe ich den Abend?
Absolut. Jedes Programm muss eine gewisse Publikumswirksamkeit haben. Ich muss in allen meinen Projekten daran denken, weil ich selbst viele dieser Projekte aktiv verkaufen muss: In Gstaad an die Sponsoren und einem breiten Publikum oder aber im Fall des Kammer orchesters Basel an Konzertveranstalter. Ich bin nie der hochsubventionierte Veranstalter des städtischen Orchesterbetriebs, der 15 Millionen Franken zur Verfügung hat und auf gut Glück drauflosplanen kann. Ohne Verkauf finden meine Projekte nicht statt.
Wie stark lenkt das Verkaufsdenken die Auswahl des Solisten?
Der Personenkult nimmt immer weiter zu. Bei deutschen Konzertveranstaltern in kommerziellen Reihen läuft mittlerweile alles über den Solisten-Namen. Sogar Projekte mit weltberühmten Orchestern. Ein Beispiel: Sol Gabetta tourt im Spätsommer 2016 als Cello-Solistin mit dem weltberühmten Concertgebouw Orchester Amsterdam. Selbst mit diesem Kaliber ist Sol die Lokomotive des Konzerts. Das ist fast unheimlich.
Ist es nicht ernüchternd: Nur der Star zieht – ausgefeilte Programme und Neue Musik sind dem Publikum egal.
Das Tournee-Geschäft ist knallhart. Man muss einerseits das Spiel mitmachen, wenn man am Geschäft teilnehmen will, und anderseits Strategien entwickeln, um dennoch ein Orchester lebendig und innovativ zu erhalten. Sogenannt radikale Programme mit ausschliesslich neuer oder alter Musik finden zunehmend in spezialisierten Festivals und Konzertreihen statt, was durchaus positiv zu bewerten ist.
Ist es wichtig für Konzertveranstalter, etwas Neues, anderes – etwas Originelles – zu machen?
Ich bin sehr skeptisch, wenn David Garrett Beethoven verpoppt. Die klassische Musik braucht keine Verzerrung. Alles rundherum ist aber modellierbar. Die Aufführungsformen sind an vielen Orten völlig festgefahren, ein strenges Ritual, das mit dem fixen Konzertbeginn anfängt. Mit Konzertformen kann man aber wunderbar spielen, auch mit den Lokalitäten. Warum kann man nicht mal ein Stück zweimal spielen?
Machen Sie so etwas?
Zugegeben, es ist schwierig, und wir gelangen erneut zur Frage: Geschieht das in einem kommerziellen Umfeld, oder ist da ein öffentlicher Auftrag dahinter, Subventionsgeld? Das sind zwei verschiedene Ausgangslagen.
Ist es also unmöglich, dass das Kammerorchester Basel die 5. Sinfonie Beethovens einst gleich zweimal hintereinander spielt?
Wir realisieren im Rahmen unseres Haydn-2032-Projektes bei den Haydn-Nächten in Basel, Wien und Berlin spannende Versuche. Sie sind ein Experimentierfeld für mich, denn bei diesen Veranstaltungen kommen wir von den normalen Konzertformen weg und zelebrieren eine Nacht für alle Sinne: mit Musik, Foto-Präsentation, Literatur, Werkgesprächen und Gastronomie – Haydn bleibt das Zentrum, aber wir möchten andere Sinne anregen, um die Musik in ein Ganzes stellen zu können.
Gibt es unterschiedliches Publikum? Ist es in Basel anders als Zürich? Gstaad anders als Luzern?
Nein. In einem Konzert sitzen meist alle bunt gemischt: Kenner, Liebhaber, solche, die nur wegen des Cüpli kommen, solche, die nur wegen des Stars da sind. Mal gibts von jenen etwas mehr, mal von diesen. Aber es ist ein Vorurteil, zu glauben, die verschiedenen Spielstätten würden sich unterscheiden.
Stimmt es, dass das Klassik-Publikum immer älter wird?
Das ist ein anderes Vorurteil, das ich nicht mehr hören kann. Sicher, klassische Musik spricht ältere Menschen eher an. Aber das ist ja auch die Logik des Lebens, und was soll daran schlecht sein? Die 25- bis 50-Jährigen sind im Karriere- und/oder Familienstress und suchen für sich vielleicht eher sportliche Ausgleichsmöglichkeiten. Wir müssen schauen, dass wir mit den Kindern und Jugendlichen Kontakt knüpfen können, dass wir Familienprojekte mit tiefer Hemmschwelle schaffen, und danach sollen wir sie auch wieder «gehen lassen» können. Ich bin überzeugt, dass ab einem gewissen Alter die Musse und das Interesse für Musik quasi natürlich wächst mit den zentralen Fragen um Leben und Sterben … und die zunehmend hohe Lebenserwartung ist im Prinzip eine positive Entwicklung für die Kulturunternehmen. Aber wichtig bleibt der erste Kontakt, die erste Berührung als Kind und Jugendlicher.
Stimmt es hingegen, dass das jüngere Publikum weniger Ahnung von Klassik als das ältere Publikum hat?
Das Bildungsbürgertum, das in Deutschland nach wie vor stark ist, stirbt aus. Aber die Menschen zwischen 30 und 60 sind spiritueller veranlagt. Diese Leute empfinde ich als aufnahmebereiter als früher. Sie sind offen dafür, durch ein Konzert in eine andere Welt zu kommen. Sie suchen Spiritualität, sie fragen nach dem Unerklärlichen im Leben und können Musik als einen Weg zu diesen Fragen empfinden.
Dieses Publikum geht ein Konzert emotional und nicht intellektuell an?
Genau – und das ist auch eine Chance für uns Konzertveranstalter. Diese Leute können wir wunderbar abholen mit emotionalen und sinnlichen Themen. Die letzte CD von Sol Gabetta hiess «Prayer» und verzeichnete überraschend hohe Verkaufszahlen. Die emotional-spirituelle Schiene zeitigte Wirkung.
Das Magazin der Zürcher Tonhalle Gesellschaft fragt jeden Monat eine Person: Welche Aufgabe hat das Sin fonieorchester im 21. Jahrhundert? Ich frage Sie: Hat es eine Aufgabe?
Auf jeden Fall! Ein Sinfonieorchester wie das Tonhalle-Orchester hat eine Aufgabe, auch ein Kammerorchester. Die Orchesterkultur gehört zur Gesellschaft, zum Leben. Das kann faszinierende Erlebnisse auslösen, heute wie vor 200 Jahren. Aber der Auftrag hat sich verändert. Wir sind soeben von einer USA-Tournee nach Hause zurückgekehrt, und ich sah eben bei amerikanischen Veranstaltern, wie stark man auf das «Erlebnis» zielt, auf das Mitgehen. Die sagen ihrem Publikum nicht, «wir hören nun die revolutionäre 3. Sinfonie», sondern: «Erlebe die Revolution von 1789 und ihre Folgen. Begib dich auf diesen Weg, falle in diesen Zustand hinein!» Es ist nun mal so, dass Komponisten ein Zeitgefühl ausdrückten und dafür ein Orchester als Ausdrucksmittel brauchten. Das «Erleben» von Musik sollte viel mehr ins Zentrum rücken als das blosse «Hören». Da sind uns die Amerikaner noch voraus.
Wie wichtig ist der Saal?
Schauen Sie das KKL Luzern und seine Geschichte an: Ein Konzertabend ist ein Gesamterlebnis, und die unter schied lichen Räume eines Musikzentrums spielen dabei eine Rolle, ja gehören zur Veranstaltung dazu. Es ist typisch, dass sowohl das Stadtcasino Basel und bald die Tonhalle Zürich ausgebaut oder renoviert werden. Eine gute Akustik ist Voraussetzung, aber ein Haus muss als Ganzes gedacht werden, mit Gastronomie, Flanierzone, dazu mit Aussen bereich, Foyer. Es muss Atmosphäre geschaf fen werden.
Wir sitzen hier im Zürcher Volkshaus, gegenüber ist die alte Kanzlei. Ein interessanter Saal für Sie?
Wenn er Atmosphäre hat und akustisch gut ist, warum nicht? Mit der Wahl des Standortes schafft man oft schon eine Annäherung an ein anderes Publikum: Mit dem Haydn-2032-Projekt zieht es uns eher in ein solches Umfeld, weil wir eine grössere Chance der Verschmelzung der Sparten sehen als im traditionellen Konzertsaal. Ich finde, dass jedes subventionierte städtische Sinfonieorchester den Auftrag haben müsste, eine ganze Stadt zu bespielen – hinauszugehen – auf die Menschen zuzugehen.
Sie würden also im Sommer eher hier auf dem Helvetia-Platz im multikultigen Kreis 4 Konzerte geben als auf dem Münsterplatz im Kreis 1?
Ganz genau, dann erreichen wir andere Menschen. Wir müssen die Grenzen des klassischen Konzertes sprengen.
Sie sollten Intendant eines städtischen Sinfonieorchesters werden!
Vor dieser Frage stand ich öfter, aber ich habe mich für für die Umsetzung der eigenen Projekte entschieden. Ich wäre zu eingeengt in einem festen Betrieb. Vielleicht ändert sich das in den nächsten Jahren. Aber manchmal denke ich, wie relativ einfach das Management eines städtischen Sinfonieorchesters wäre im Vergleich zu meinen Projekten im «freien» Markt, wo mit wenigen Mitteln ein zugkräftiges musikalisches Produkt geschaffen werden muss.
Wie gross ist der Konkurrenzkampf unter den grossen Sommerfestivals, im Speziellen zwischen Verbier und dem Menuhin Festival in Gstaad?
Je besser es uns lief in Gstaad, desto selbstbewusster sind wir geworden gegenüber Verbier. Verbier ist ein zweiwöchiges Feuerwerk und wir eine siebenwöchige Konzertreihe, grob gesagt. Verbier ist gegründet worden, als es in Gstaad Ende der Neunzigerjahre sehr schlecht lief. Inzwischen haben sich bei uns die Publikumszahlen verdoppelt, und das Festival steht besser da denn je. Die Künstler lieben Gstaad auch dafür, dass sie bei uns die Könige sind und als solche betreut werden während ihres Aufenthalts. Das ist für das Künstler-Ego sehr wichtig. In Verbier sind sie einer unter vielen.
Läuft beim Rennen um die Stars nicht alles über die Gage?
Nein, auch ein Vorurteil. Topkünstler sind flexibler geworden. Andere Faktoren wie Repertoire, Probemöglichkeiten, Ferienplanungen, musikalische Partner sind ebenso wichtig. Zudem sind neue Gagen-Modelle erkennbar: Wir vereinbaren oftmals ein Minimalhonorar bei einem Limit an Besuchern. Kommen dann mehr, ist der Künstler daran beteiligt. Das ist fair. Ein hohes Honorar ist dann gerechtfertigt, wenn ein entsprechender Rücklauf da ist.
Schön wäre, eine Anne-Sophie Mutter in der Kirche Saanen zu erleben. Das geht aber nicht, da die Gage zu hoch ist, die Einnahmen dort zu klein ...
... ausser ein Sponsor übernimmt einen gewichtigen Teil. Wir haben einige Konzerte auch diesen Sommer, wo dies der Fall ist, ja. Es fällt uns leichter als früher, Mäzene für die Übernahme der Kosten eines ganzen Projekts zu motivieren. Vor zehn Jahren war es viel schwieriger, überhaupt mit Mäzenen in Kontakt zu kommen. Diese Geldgeber haben nämlich durchaus einen künstlerischen Anspruch, auch wenn sie manchmal etwas snobistisch wirken. Namedropping ist ihnen zwar wichtig, aber die wollen etwas inhaltlich Spannendes machen, etwas Exklusives, das sich von anderen Festivals abhebt. Ich verbringe viel Zeit, um mit ihnen etwas auszuarbeiten.
Warum sind die Geldgeber offener?
Ich spüre mehr Vertrauen. Der Aufbau von Vertrauen braucht viel Zeit. Mäzene sind auch interessiert an der Entwicklung einer Organisation wie dem Festival Gstaad oder am Aufbau neuer Projekte. Es gibt Mäzene, vor allem aus dem angelsächsischen oder französischen Raum, die mit einem Engagement Aufmerksamkeit suchen, andere, die gerade diese verhindern möchten und in keinem Fall in Erscheinung treten wollen.
Verlangen die Wirtschaftssponsoren zu grosse Gegenleistungen?
Sie müssen ihre Sponsoren-Ausgaben intern immer klarer rechtfertigen und mit Resultaten belegen, was sehr schwierig ist. Früher gab es den Patron eines Unternehmens, der, ganz philanthropisch geprägt, ein Sponsoring durchsetzte ohne Blick auf Gegen leistungen und Rücklauf. Heute muss für immer weniger Sponsoring-Volumen immer mehr geboten werden. Spon soring hat sich grundsätzlich gewandelt. Daher ist bei uns auch das Segment des Mäzenatentums und der privaten Förderer so wichtig und so unersetzlich geworden.
Chistoph Müller Der 1970 geborene, im Fricktal aufgewachsene Musikmanager ist Intendant und CEO des Menuhin-Festivals Gstaad, Konzertmanager des Kammerorchesters Basel, in dem er bis 2013 als Cellist mitwirkte. Ausserdem ist er Mit-Geschäftsführer der Swiss classics GmbH und Präsident der neu gegründeten Joseph-Haydn-Stiftung Basel. Im Jahr 2006 gründete er mit seiner Partnerin Sol Gabetta das Solsberg-Festival. Mit dem Team seines Musikmanagementbüros organisiert er das Solsberg-Festival, das Projekt Haydn 2032, die Klassiksterne Rheinfelden, die Swiss-classics-Konzerte im KKL und im Landgasthof Riehen. Er lebt in Olsberg AG. Das 10. Solsberg-Festival (www.solsberg.ch) beginnt am 29. Mai, das Menuhin-Festival am 16. Juli. (bez)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen