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Schweiz am Sonntag / MLZ; 10. Mai 2015
Das grosse Interview mit Christoph Müller
«Musik muss Sprengkraft haben»
Kulturmanager Christoph Müller ist
einer der aktivsten und modernsten Intendanten der Schweiz. Einer, der
ein Wort wie «Publikumswirksamkeit» nicht scheut.
Herr Müller, wie viele Konzerte initi ieren Sie im Jahr? Wie viele Leute könnten die hören?
Christoph Müller: Etwa 200 Konzerte für 160 000 Menschen: 80 mit dem
Kammerorchester Basel weltweit, 55 beim Menuhin Festival in Gstaad, der
Rest bei unseren Konzertreihen in Luzern, Olsberg, Rheinfelden und
Riehen sowie der Cappella Gabetta, dem Projekt Haydn-2032 und des Gstaad
Festival Orchestra.
Welcher Grundgedanke steht hinter einem Konzert?
Ich versuche, jedem Konzert ein Gesicht zu geben. Es ist wichtig,
dass von aussen erkannt wird, was hinter der Programmkonzeption steht.
Wichtig ist die Mischung zwischen Solist, Dirigent und Programm sowie
die Rücksicht auf deren Stärken – das muss eine Sprengkraft haben.
Erhält ein Solist diese Bühne, muss es eine Persönlichkeit mit Charisma
sein, ein Sympathieträger, der das Publikum erreichen kann. Abgelöschte
Kopfmusiker, die das Intuitive vermissen lassen, kommen schlecht an.
Somit spielt stets die Frage mit: Wie verkaufe ich den Abend?
Absolut. Jedes Programm muss eine gewisse Publikumswirksamkeit haben.
Ich muss in allen meinen Projekten daran denken, weil ich selbst viele
dieser Projekte aktiv verkaufen muss: In Gstaad an die Sponsoren und
einem breiten Publikum oder aber im Fall des Kammer orchesters Basel an
Konzertveranstalter. Ich bin nie der hochsubventionierte Veranstalter
des städtischen Orchesterbetriebs, der 15 Millionen Franken zur
Verfügung hat und auf gut Glück drauflosplanen kann. Ohne Verkauf finden
meine Projekte nicht statt.
Wie stark lenkt das Verkaufsdenken die Auswahl des Solisten?
Der Personenkult nimmt immer weiter zu. Bei deutschen
Konzertveranstaltern in kommerziellen Reihen läuft mittlerweile alles
über den Solisten-Namen. Sogar Projekte mit weltberühmten Orchestern.
Ein Beispiel: Sol Gabetta tourt im Spätsommer 2016 als Cello-Solistin
mit dem weltberühmten Concertgebouw Orchester Amsterdam. Selbst mit
diesem Kaliber ist Sol die Lokomotive des Konzerts. Das ist fast
unheimlich.
Ist es nicht ernüchternd: Nur der Star zieht – ausgefeilte Programme und Neue Musik sind dem Publikum egal.
Das Tournee-Geschäft ist knallhart. Man muss einerseits das Spiel
mitmachen, wenn man am Geschäft teilnehmen will, und anderseits
Strategien entwickeln, um dennoch ein Orchester lebendig und innovativ
zu erhalten. Sogenannt radikale Programme mit ausschliesslich neuer oder
alter Musik finden zunehmend in spezialisierten Festivals und
Konzertreihen statt, was durchaus positiv zu bewerten ist.
Ist es wichtig für Konzertveranstalter, etwas Neues, anderes – etwas Originelles – zu machen?
Ich bin sehr skeptisch, wenn David Garrett Beethoven verpoppt. Die
klassische Musik braucht keine Verzerrung. Alles rundherum ist aber
modellierbar. Die Aufführungsformen sind an vielen Orten völlig
festgefahren, ein strenges Ritual, das mit dem fixen Konzertbeginn
anfängt. Mit Konzertformen kann man aber wunderbar spielen, auch mit den
Lokalitäten. Warum kann man nicht mal ein Stück zweimal spielen?
Machen Sie so etwas?
Zugegeben, es ist schwierig, und wir gelangen erneut zur Frage:
Geschieht das in einem kommerziellen Umfeld, oder ist da ein
öffentlicher Auftrag dahinter, Subventionsgeld? Das sind zwei
verschiedene Ausgangslagen.
Ist es also unmöglich, dass das Kammerorchester Basel die 5. Sinfonie Beethovens einst gleich zweimal hintereinander spielt?
Wir realisieren im Rahmen unseres Haydn-2032-Projektes bei den
Haydn-Nächten in Basel, Wien und Berlin spannende Versuche. Sie sind ein
Experimentierfeld für mich, denn bei diesen Veranstaltungen kommen wir
von den normalen Konzertformen weg und zelebrieren eine Nacht für alle
Sinne: mit Musik, Foto-Präsentation, Literatur, Werkgesprächen und
Gastronomie – Haydn bleibt das Zentrum, aber wir möchten andere Sinne
anregen, um die Musik in ein Ganzes stellen zu können.
Gibt es unterschiedliches Publikum? Ist es in Basel anders als Zürich? Gstaad anders als Luzern?
Nein. In einem Konzert sitzen meist alle bunt gemischt: Kenner,
Liebhaber, solche, die nur wegen des Cüpli kommen, solche, die nur wegen
des Stars da sind. Mal gibts von jenen etwas mehr, mal von diesen. Aber
es ist ein Vorurteil, zu glauben, die verschiedenen Spielstätten würden
sich unterscheiden.
Stimmt es, dass das Klassik-Publikum immer älter wird?
Das ist ein anderes Vorurteil, das ich nicht mehr hören kann. Sicher,
klassische Musik spricht ältere Menschen eher an. Aber das ist ja auch
die Logik des Lebens, und was soll daran schlecht sein? Die 25- bis
50-Jährigen sind im Karriere- und/oder Familienstress und suchen für
sich vielleicht eher sportliche Ausgleichsmöglichkeiten. Wir müssen
schauen, dass wir mit den Kindern und Jugendlichen Kontakt knüpfen
können, dass wir Familienprojekte mit tiefer Hemmschwelle schaffen, und
danach sollen wir sie auch wieder «gehen lassen» können. Ich bin
überzeugt, dass ab einem gewissen Alter die Musse und das Interesse für
Musik quasi natürlich wächst mit den zentralen Fragen um Leben und
Sterben … und die zunehmend hohe Lebenserwartung ist im Prinzip eine
positive Entwicklung für die Kulturunternehmen. Aber wichtig bleibt der
erste Kontakt, die erste Berührung als Kind und Jugendlicher.
Stimmt es hingegen, dass das jüngere Publikum weniger Ahnung von Klassik als das ältere Publikum hat?
Das Bildungsbürgertum, das in Deutschland nach wie vor stark ist,
stirbt aus. Aber die Menschen zwischen 30 und 60 sind spiritueller
veranlagt. Diese Leute empfinde ich als aufnahmebereiter als früher. Sie
sind offen dafür, durch ein Konzert in eine andere Welt zu kommen. Sie
suchen Spiritualität, sie fragen nach dem Unerklärlichen im Leben und
können Musik als einen Weg zu diesen Fragen empfinden.
Dieses Publikum geht ein Konzert emotional und nicht intellektuell an?
Genau – und das ist auch eine Chance für uns Konzertveranstalter.
Diese Leute können wir wunderbar abholen mit emotionalen und sinnlichen
Themen. Die letzte CD von Sol Gabetta hiess «Prayer» und verzeichnete
überraschend hohe Verkaufszahlen. Die emotional-spirituelle Schiene
zeitigte Wirkung.
Das Magazin der Zürcher Tonhalle Gesellschaft fragt jeden Monat eine
Person: Welche Aufgabe hat das Sin fonieorchester im 21. Jahrhundert?
Ich frage Sie: Hat es eine Aufgabe?
Auf jeden Fall! Ein Sinfonieorchester wie das Tonhalle-Orchester hat
eine Aufgabe, auch ein Kammerorchester. Die Orchesterkultur gehört zur
Gesellschaft, zum Leben. Das kann faszinierende Erlebnisse auslösen,
heute wie vor 200 Jahren. Aber der Auftrag hat sich verändert. Wir sind
soeben von einer USA-Tournee nach Hause zurückgekehrt, und ich sah eben
bei amerikanischen Veranstaltern, wie stark man auf das «Erlebnis»
zielt, auf das Mitgehen. Die sagen ihrem Publikum nicht, «wir hören nun
die revolutionäre 3. Sinfonie», sondern: «Erlebe die Revolution von 1789
und ihre Folgen. Begib dich auf diesen Weg, falle in diesen Zustand
hinein!» Es ist nun mal so, dass Komponisten ein Zeitgefühl ausdrückten
und dafür ein Orchester als Ausdrucksmittel brauchten. Das «Erleben» von
Musik sollte viel mehr ins Zentrum rücken als das blosse «Hören». Da
sind uns die Amerikaner noch voraus.
Wie wichtig ist der Saal?
Schauen Sie das KKL Luzern und seine Geschichte an: Ein Konzertabend
ist ein Gesamterlebnis, und die unter schied lichen Räume eines
Musikzentrums spielen dabei eine Rolle, ja gehören zur Veranstaltung
dazu. Es ist typisch, dass sowohl das Stadtcasino Basel und bald die
Tonhalle Zürich ausgebaut
oder renoviert werden. Eine gute Akustik ist Voraussetzung, aber ein
Haus muss als Ganzes gedacht werden, mit Gastronomie, Flanierzone, dazu
mit Aussen bereich, Foyer. Es muss Atmosphäre geschaf fen werden.
Wir sitzen hier im Zürcher Volkshaus, gegenüber ist die alte Kanzlei. Ein interessanter Saal für Sie?
Wenn er Atmosphäre hat und akustisch gut ist, warum nicht? Mit der
Wahl des Standortes schafft man oft schon eine Annäherung an ein anderes
Publikum: Mit dem Haydn-2032-Projekt zieht es uns eher in ein solches
Umfeld, weil wir eine grössere Chance der Verschmelzung der Sparten
sehen als im traditionellen Konzertsaal. Ich finde, dass jedes
subventionierte städtische Sinfonieorchester den Auftrag haben müsste,
eine ganze Stadt zu bespielen – hinauszugehen – auf die Menschen
zuzugehen.
Sie würden also im Sommer eher hier auf dem Helvetia-Platz im multikultigen Kreis 4 Konzerte geben als auf dem Münsterplatz im Kreis 1?
Ganz genau, dann erreichen wir andere Menschen. Wir müssen die Grenzen des klassischen Konzertes sprengen.
Sie sollten Intendant eines städtischen Sinfonieorchesters werden!
Vor dieser Frage stand ich öfter, aber ich habe mich für für die
Umsetzung der eigenen Projekte entschieden. Ich wäre zu eingeengt in
einem festen Betrieb. Vielleicht ändert sich das in den nächsten Jahren.
Aber manchmal denke ich, wie relativ einfach das Management eines
städtischen Sinfonieorchesters wäre im Vergleich zu meinen Projekten im
«freien» Markt, wo mit wenigen Mitteln ein zugkräftiges musikalisches
Produkt geschaffen werden muss.
Wie gross ist der Konkurrenzkampf unter den grossen Sommerfestivals,
im Speziellen zwischen Verbier und dem Menuhin Festival in Gstaad?
Je besser es uns lief in Gstaad, desto selbstbewusster sind wir
geworden gegenüber Verbier. Verbier ist ein zweiwöchiges Feuerwerk und
wir eine siebenwöchige Konzertreihe, grob gesagt. Verbier ist gegründet
worden, als es in Gstaad Ende der Neunzigerjahre sehr schlecht lief.
Inzwischen haben sich bei uns die Publikumszahlen verdoppelt, und das
Festival steht besser da denn je. Die Künstler lieben Gstaad auch dafür,
dass sie bei uns die Könige sind und als solche betreut werden während
ihres Aufenthalts. Das ist für das Künstler-Ego sehr wichtig. In Verbier
sind sie einer unter vielen.
Läuft beim Rennen um die Stars nicht alles über die Gage?
Nein, auch ein Vorurteil. Topkünstler sind flexibler geworden. Andere
Faktoren wie Repertoire, Probemöglichkeiten, Ferienplanungen,
musikalische Partner sind ebenso wichtig. Zudem sind neue Gagen-Modelle
erkennbar: Wir vereinbaren oftmals ein Minimalhonorar bei einem Limit an
Besuchern. Kommen dann mehr, ist der Künstler daran beteiligt. Das ist
fair. Ein hohes Honorar ist dann gerechtfertigt, wenn ein entsprechender
Rücklauf da ist.
Schön wäre, eine Anne-Sophie Mutter in der Kirche Saanen zu erleben.
Das geht aber nicht, da die Gage zu hoch ist, die Einnahmen dort zu
klein ...
... ausser ein Sponsor übernimmt einen gewichtigen Teil. Wir haben
einige Konzerte auch diesen Sommer, wo dies der Fall ist, ja. Es fällt
uns leichter als früher, Mäzene für die Übernahme der Kosten eines
ganzen Projekts zu motivieren. Vor zehn Jahren war es viel schwieriger,
überhaupt mit Mäzenen in Kontakt zu kommen. Diese Geldgeber haben
nämlich durchaus einen künstlerischen Anspruch, auch wenn sie manchmal
etwas snobistisch wirken. Namedropping ist ihnen zwar wichtig, aber die
wollen etwas inhaltlich Spannendes machen, etwas Exklusives, das sich
von anderen Festivals abhebt. Ich verbringe viel Zeit, um mit ihnen
etwas auszuarbeiten.
Warum sind die Geldgeber offener?
Ich spüre mehr Vertrauen. Der Aufbau von Vertrauen braucht viel Zeit.
Mäzene sind auch interessiert an der Entwicklung einer Organisation wie
dem Festival Gstaad oder am Aufbau neuer Projekte. Es gibt Mäzene, vor
allem aus dem angelsächsischen oder französischen Raum, die mit einem
Engagement Aufmerksamkeit suchen, andere, die gerade diese verhindern
möchten und in keinem Fall in Erscheinung treten wollen.
Verlangen die Wirtschaftssponsoren zu grosse Gegenleistungen?
Sie müssen ihre Sponsoren-Ausgaben intern immer klarer rechtfertigen
und mit Resultaten belegen, was sehr schwierig ist. Früher gab es den
Patron eines Unternehmens, der, ganz philanthropisch geprägt, ein
Sponsoring durchsetzte ohne Blick auf Gegen leistungen und Rücklauf.
Heute muss für immer weniger Sponsoring-Volumen immer mehr geboten
werden. Spon soring hat sich grundsätzlich gewandelt. Daher ist bei uns
auch das Segment des Mäzenatentums und der privaten Förderer so wichtig
und so unersetzlich geworden.
Chistoph Müller
Der 1970 geborene, im Fricktal aufgewachsene Musikmanager ist
Intendant und CEO des Menuhin-Festivals Gstaad, Konzertmanager des
Kammerorchesters Basel, in dem er bis 2013 als Cellist mitwirkte.
Ausserdem ist er Mit-Geschäftsführer der Swiss classics GmbH und
Präsident der neu gegründeten Joseph-Haydn-Stiftung Basel. Im Jahr 2006
gründete er mit seiner Partnerin Sol Gabetta das Solsberg-Festival. Mit
dem Team seines Musikmanagementbüros organisiert er das
Solsberg-Festival, das Projekt Haydn 2032, die Klassiksterne
Rheinfelden, die Swiss-classics-Konzerte im KKL und im Landgasthof
Riehen. Er lebt in Olsberg AG. Das 10. Solsberg-Festival
(www.solsberg.ch) beginnt am 29. Mai, das Menuhin-Festival am 16. Juli.
(bez)